Direkt zum Inhalt springen

Das blutende Knöchlein

Auf der Limmernalp, wo heute der Stausee liegt, ging einst ein junger Bursche den Sennen zur Hand, der hiess David. Lange bevor die Sonne über dem Bifertenstock aufging, war er jeweils bereits wach und wusch sich im Brunnen vor der Hütte. «Hört, hört», sagten sie im Unteren Stafel auf ihren Schlaflagern, «David stösst schon den ersten Freudenschrei aus, siist Zeit, um aufzustehen.» Auch die Gämsen erwachten und selbst die Murmeltiere liessen Ihre ersten Pfiffe vernehmen.

Da er streng arbeitete, hatte David immer grossen Appetit und so pflegte er bereits im Voraus etwas zu naschen und vom Fenz, dem Sennengericht aus Mehl, Butter und Milch, ass er jeweils wie ein erwachsener Älpler. Der Alpsenn jedoch war ein harter, unleidlicher Mann, einer der allen andern sogar die Zahnschmerzen missgönnte. Er griff den Jungen an, wann immer er konnte.

Eines Abends, David kommt in die Alphütte und schaut, ob es nicht bald Abendbrot gibt, wird der Senn fuchsteufelswild. Er brüllt ihn an: «Hier kannst du's haben, bis du genug hast!», packt ihn beim Genick und taucht seinen Kopf in die siedend heisse Molke. Danach stiess er die Leiche des Jungen in die Schlucht und erzählte den Leuten, der David sei zu Tode gestürzt. Doch liess das schlechte Gewissen diesem Teufel von einem Senn keine Ruh. Bald nach dem Michaelistag, das ist der 29. September, wo im Glarnerland die Sennten von der Alp abfahren, wanderte er aus, nachdem er seinen Lohn eingesackt hatte. Niemand hörte noch etwas von ihm.

Es gehen einige Jahre ins Land, da kommt er wieder mal nach Glarus, wo gerade Kirchweih gefeiert wird und in allen Wirtshäusern die Fiedler aufspielen. Der Senn ist sofort mit dabei und lässt seine Schuhsohlen glühen. Keinen Tanz lässt er aus und er fliegt über den Boden wie eine Fahne im Wind. Zwischen den Tänzen geht er hinaus an die Linth. Um sich abzukühlen, schöpft er mit dem Hut etwas Wasser aus dem Fluss und sieht darin verwundert ein weisses Knöchlein. Er nimmt's in die Finger, und je länger er’s begutachtet, umso mehr gefällt ihm das Knöchlein. Es ist wunderschön, heller als Elfenbein und gleicht ein bisschen einer Vogelfeder, so dass er sich s an den Hut steckt, bevor er wieder zum Tanzboden geht. Doch als er mitten im schönsten Schwung ist, stösst sein Mädchen plötzlich einen markerschütternden Schrei aus und windet sich aus seinem Arm. Selbst die Musik hört auf zu spielen. Alle stehen um den Senn und einer deutet auf seinen Hut und ruft: «Da! Da!» Darauf sieht auch der hinterste im Saal, wie aus dem bleichen Federknöchlein dunkle Blutstropfen schwer zu Boden fallen.

Die Leute erschraken und einer, der sich auf solche magischen Dinge verstand, sagte, das sei ein böses Zeichen, das sei es in der Tat. So befragten sie den Senn, bis er es nicht mehr leugnen konnte, und alles kam ans Licht. So wurde er - direkt vom Tanzboden weg - vors hohe Gericht geführt und kurz darauf auf den Galgenhügel.